Liebe Lesende,
In Kopenhagen gehören Radwege und ÖPNV ebenso zur Entwicklungsstrategie und zum Marketing wie erneuerbare Energieversorgung und Innenstadtgrün. In Ländern des Globalen Südens scheinen dies angesichts von Wohnungsnot und täglichem Verkehrsinfarkt im ersten Moment Luxusthemen zu sein.
Die Verstädterung nimmt weltweit in rasantem Tempo zu. In Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum stagniert zuweilen die ländliche Bevölkerungszahl, während die Großstädte überdurchschnittlich wachsen, häufig ohne Entwicklungskonzepte und Verkehrsplanung. Nicht nur der Flächenverbrauch stößt an Grenzen, auch Ressourcen wie Sand als Grundlage für Betonbau werden vielfach zum Problem.
Die katastrophale Energiebilanz der Zementherstellung bis hin zu Debatten um Carbon Capture and Storage unter den Küsten zeigt zudem den dringenden Handlungsbedarf für einen Wandel von Baukonzepten auf. Nachhaltiges Bauen muss dabei kein Luxus sein, den sich nur privilegierte Länder und Bevölkerungsschichten leisten können. Im Gegenteil bieten alte Erfahrungen und neue Entwicklungen große Chancen für klimaangepasste Bauweisen und positive Auswirkungen auf das Verhältnis von Energie- und Ressourceneinsatz versus Arbeitsbeschaffung. Die bisherige Konnotation von Beton als Statussymbol für Wohlstand und Aufstieg muss dafür aber gesellschaftlich und emotional in Frage gestellt und aufgebrochen werden. Die Verbindung traditionellen Bauens mit moderner solartechnischer Klimatisierung und Elektrifizierung könnte Nachhaltigkeit mit Modernität verbinden und nicht zuletzt die Wohnqualität verbessern.
Flächenversiegelung durch Straßen und Gebäude führt weltweit zu steigenden Risiken bei Starkregenereignissen, aber auch durch drückende Hitze. Wo Wasser versickern und verdunsten kann, wo Pflanzen Schatten spenden und kühlen, ist auch die Lebensqualität höher. Die Freunde der Schottergärten und Betonfassaden sind aber noch stark verbreitet. Neben Informationen und Auflagen sind vor allem gut kommunizierte positive Beispiele und Erfahrungen wichtig, um Gewohnheiten und wirtschaftliche Interessen aufzubrechen.
Kompromisse zu Um- und Weiterbau sind oft hilfreicher als radikale Neubaukonzepte, denn ein Abriss bringt die schon investierte Energie nicht zurück. Ein bestehendes Betonfundament ist bei zunehmenden Überschwemmungsrisiken zudem eine bessere Grundlage als ein erdbodennaher Holz-Lehmaufbau. “Nach oben“ lässt sich aber auch bei der Verdichtung im Bestand etwa durch den Bau weiterer Geschosse regionales Bau- und Dämmmaterial mit deutlich besseren Energie- und Klimatisierungswerten einbeziehen, wenn die Statik das zulässt. Außenfassaden und Dächer können stärker für die Platzierung von solarthermischen und Photovoltaik-Anlagen verwendet und mit Dachbegrünung kombiniert werden.
Ungewöhnliche Kombinationen auch mit uralten Kulturtechniken wie nubischen Gewölben geben auch Impulse aus dem Globalen Süden in den Norden wie beim Bau des Zentrums für nachhaltige Entwicklung, artefact im schleswig-holsteinischen Glücksburg. Die dortige Bildungsarbeit beschränkt sich dabei nicht auf Schulprojekte und Wochenendkurse für interessierte Laien. Inzwischen findet alljährlich die berufliche Fortbildung zur Fachkraft Lehmbau für Zimmerleute, Architektinnen/Architekten und andere Profis statt, weil der ehemalige „Arme Leute-Baustoff“ inzwischen cool geworden ist. Bei Fortbildungen für Multiplikatorinnen/Multiplikatoren aus dem Globalen Süden trägt die Wiederentdeckung und dadurch erlebte Wertschätzung „über Bande“ auch zur Imageverbesserung und Weiterentwicklung des traditionell vorhandenen, aber in Vergessenheit geratenen Know-hows bei.
Die Übertragbarkeit auf andere Regionen ist zwar begrenzt, kann aber anregen, auch anderswo mutiger als bisher nach eigenen Voraussetzungen und Chancen zu suchen. Die Verbindung von Tradition und Moderne oder des Guten aus zwei Welten ist möglich, aber kein Selbstgänger.
Dieser Newsletter stellt vielfältige Bildungsmaterialien und -angebote zu verschiedenen Aspekten im Bereich zukunftsfähiger Stadtentwicklung in Nord und Süd vor. Viel Spaß beim Lesen!
Werner Kiwitt, Geschäftsführer des Zentrums für nachhaltige Entwicklung www.artefact.de
EWIK-Kooperationspartner